Mittwoch, 15. Juni 2011

Verfallsdatum




Auf der ersten Seite einer Zeitung war die Schlagzeile platziert:
Bundesratskandidat mit 60 schon zu alt!
Aufgeschreckt dachte ich daran, dass mich selbst auch nur ein paar Jährchen
von dieser Zahl trennen. Gleich-zeitig erinnerte ich mich an das kurze
Gespräch dreier
Männer im Bus, als ich früh morgens zum Bahnhof fuhr.

"Weisst du, ich bin halt alt, verbraucht und betriebsblind", sagte der eine.
"Dann mach' es doch wie der XY, der hat sich krank gemeldet und ist gar
nicht mehr in die Firma zurückgekehrt. Jetzt bezieht er IV", gibt ihm der
andere zur Antwort. - „Was? Nein, das ist nichts für mich. Aber wenn du über
dreissig Jahre immer im selben Betrieb bist, dein ganzes Wissen und deine
Arbeitskraft investiert hast, dann ist es einfach bitter zu hören, dass du
nicht mehr die volle Leistung bringst und vielleicht ausrangiert werden
sollst."

Wir definieren uns zu einem guten Teil über die Arbeit, weil wir dadurch
erfahren, dass wir etwas wert sind. Wird Arbeit nämlich nicht (nur) als
Last, Dauerstress und Druck erlebt, ist sie ein positiver Wert. So heisst es
schon beim Philosophen Immanuel Kant: "Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr
fühlen wir, dass wir leben." In der Regel ist unsere Arbeit allerdings
geplant und bestimmt von anderen.

Aber wir sind nicht nur zur Arbeit geschaffen. Wenn die Zeit der
Pensionie-rung kommt oder bei Arbeitslosigkeit, kann dieser Verlust mit
einem Gefühl von Trauer einhergehen. Oder noch krasser, es kommt einem
Schock gleich, wenn alles plötzlich wegfällt, was dem Leben ein Stück Sinn
gegeben hat. Zweifel und Unsicherheit machen sich breit: Bin ich noch
'brauchbar'? Wem nütze ich noch?
Ein Wendepunkt erfordert Abschied nehmen, Perspektivenwechsel und
Neu-orientierung. Darin liegt auch eine Chance, wenn wir fragen: Was kam
bisher zu kurz? Was macht mir Freude? Welche Alternativen gibt es? Was kann
mir
Erfüllung bringen? Womit möchte ich das noch unbeschriebene Blatt 'Zukunft'
füllen? Was soll zuerst einmal bewusst leer bleiben? Und letztlich erweist
sich manches, was im ersten Moment sinnlos erscheint, vielleicht als gute
Fügung Gottes.

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