Dienstag, 28. Juni 2011

Religion als Lebenshilfe




Vor wenigen Jahren war unsere alte Freundin noch ein gern gesehener Gast an
unserem Familientisch. Ihr schallendes Lachen war ansteckend. Dann wurde sie
plötzlich vergesslich und war verwirrt. Die niederschmetternde Diagnose
lautete: rasch fortschreitende Alzheimerkrankheit.

Beim Umzug aus ihrer Wohnung ins Pflegeheim war sie nur noch eine verlorene
Zuschauerin. Wenn wir sie im Heim besuchten, war kein eigentliches Gespräch
mehr möglich. Sobald wir ihr aber ihre geliebte orthodoxe Kirchenmusik
auflegten, war sie ganz Ohr. Einmal sang ihr meine Frau ein altbekanntes
Kirchenlied vor. Darauf reagierte unsere Freundin lebhaft und sang fröhlich
mit.

Das bestätigt die Erfahrung von Pflegeexperten, dass religiöse Rituale und
Lieder bei vielen Demenzkranken Erinnerungen an eine erlebte Religion der
Kindheit wecken. Eine Wissenschaftlerin schildert den Fall einer alten Frau,
die nach der Aufnahme in ein Heim solange das Essen verweigerte, bis die
Ärzte schon eine zwangsweise künstliche Ernährung planten. Die Patientin
habe dann im Speisesaal zufällig ein Tischgebet gehört und daraufhin sofort
mit dem Essen begonnen.

Pflegeexperten und Theologen fordern darum mehr Rücksicht auf die
Religiosität demenzkranker Menschen. Zwar gebe es auch Fälle, in denen
Ängste auf religiöse Weise verstärkt würden. Bei solchen Patienten sei ein
besonders sensibler seelsorgerlicher Umgang erforderlich.

Menschen mit Demenz mögen viel verloren haben, aber ihre Religiosität
anzuerkennen, ist in jedem Fall ein Gewinn. Wenn wir als Pflegende,
Angehörige und Seelsorger das berücksichtigen, haben wir damit nicht die
Lösung für alle wahrlich nicht leichten Alltagsprobleme gefunden, wir
könnten aber in jedem Fall eine intensivere Beziehung zu den Patienten
aufbauen.

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