Dienstag, 24. Mai 2011

Das Geschenk des Bettlers



Ich ging die Straße hinunter. Ein bedürftiger, gebrechlicher Greis hielt mich an. Entzündete, tränende Augen, fahlblaue Lippen, zerfetzte Lumpen, unsaubere Schwären. Oh, wie schrecklich hatte die Not dieses unglückliche Geschöpf verunstaltet! 
Er streckte mir seine gerötete, verschwollene, schmutzige Hand hin. Er stöhnte, er ächzte um Hilfe. 
Ich begann, all meine Taschen zu durchsuchen. Aber weder Geldbeutel noch Uhr, nicht einmal das Taschentuch war da. Ich hatte nichts mitgenommen. 
Der Bettler aber wartete noch immer und seine ausgestreckte Hand bebte und zitterte vor Schwäche. Verwirrt und verlegen ergriff ich mit kräftigem Druck diese schmutzige, zitternde Hand. 
„Zürn mir nicht, Bruder; ich habe gar nichts bei mir, mein Bruder.“ Der Bettler richtete seine entzündeten Augen auf mich; ein Lächeln kam auf seine fahlen Lippen — und dann drückte auch er meine erkalteten Finger. 
„Lass es gut sein, Bruder“, sagte er leise; „auch dafür bin ich dir dankbar. Auch das ist eine Gabe, mein Bruder.“ 
Da fühlte ich, dass auch ich von meinem Bruder eine Gabe empfangen hatte. 

1 Kommentar:

  1. Hallo Berthold,

    einen sehr schönen Blog hast du hier .
    Werde sicher desöfterne hier stöbern :)

    lg von Sternenstaub-hilft.de

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